New York Ghost – Ling Ma

Für mich ist „New York Ghost“ von Ling Ma DIE Entdeckung aus den Programmen der unabhängigen Verlage in diesem Frühjahr. Candace Chen arbeitet in New York City für einen Verlagsdienstleister. In ihren Zuständigkeitsbereich fällt die Organisation der Herstellung von zielgruppenorientierten Bibeln, ein etwas langweiliger Job, den sie mit einer gewissen Akribie ausfüllt, obwohl er ihr nichts bedeutet. Ihre eigentliche Leidenschaft gilt der Fotografie, die sie auf den Straßen New Yorks auslebt und anonym auf ihrem Blog New York Ghost postet. Auch, als sich die Stadt langsam verändert und immer mehr über das sogenannte Shen-Fieber gesprochen wird, das durch tödliche Pilzsporen übertragen wird und als unheilbar gilt, geht Candace weiter pflichtbewusst ihren Aufgaben nach und dokumentiert die Ereignisse.

Gerade dieser Teil der Handlung wirkt im Jahre 2021 in Zeiten einer weltweiten Pandemie unglaublich aktuell. Die Realität hat das, im englischen Original bereits 2018 erschienene Buch, eingeholt und die ein oder andere Szene kommt einem beim Lesen erschreckend bekannt vor – eine sehr eigene Leseerfahrung. Als die Stadt immer leerer wird, muss Candace eine Entscheidung treffen und schließt sich einer fliehenden Gruppe an, die bisher vom Fieber verschont wurde – doch hat sie damit die richtige Entscheidung getroffen?

 

Wir als Leser*innen verfolgen mit angehaltenem Atem, wie Menschen reagieren, wenn ihre Routinen und ihr Halt wegfällt und sie Gefahren ausgesetzt werden. Ling Ma schafft es, eine hochspannende und kapitalismuskritische Endzeit-Geschichte vor New Yorker Kulisse zu erzählen. Und gleichzeitig eindringlich in Rückblenden die Erfahrungen und die Familiengeschichte von Candace‘ Eltern zu schildern, die mit der jungen Candace, als sie sechs Jahre alt ist, von China in die U.S.A. emigrieren. So werden wir Lesenden immer wieder aufs Neue von diesen unterschiedlichen Perspektiven in den Roman hineingesogen.
Ein krasser, beeindruckender Hammer von einem Buch!

How to read Murakami – Zehn Wegweiser

Wenn ich nach meinem Lieblingsautor gefragt werde, kommt die Antwort ohne Zögern: Haruki Murakami. Die zweite Frage, die so gut wie immer folgt ist: Was ist dein Lieblingsbuch von ihm ? – auch das beantworte ich sekundenschnell: Kafka am Strand! Aber es gibt noch eine weitere Fragestellung, die regelmäßig aufkommt:

Was sollte ich denn nun zuerst von ihm lesen? Oder womit weitermachen, wenn ich Feuer gefangen habe? Sein Werk ist groß – ich brauche Orientierung!

Was gäbe es für einen besseren Anlass, als die am 13.10.2020 erscheinende Neuübersetzung von “Mister Aufziehvogel / Die Chroniken des Aufziehvogels” (durch the one and only Ursula Gräfe direkt aus dem Japanischen) um diese Fragen in einem Blogbeitrag zu beantworten? Ich habe seine Bücher in zehn Kategorien aufgeteilt, die euch vielleicht ein wenig als Wegweiser dienen können, angereichert mit meiner ganz persönlichen Leseerfahrung – jemand anders würde vielleicht ganz anders sortieren, was es umso spannender macht! Erzählt mir gerne in den Kommentaren, wie es euch mit Haruki Murakami so ergangen ist, welche Kategorieren ihr vielleicht gewählt hättet – ich bin gespannt!

Ihr seid bereit? Los geht es! How to read Murakami – Zehn Wegweiser weiterlesen

Murakami zum Zweiten – vom Laufen und Wiederlesen

Wenn sich nichts bewegt, musst Du dich bewegen. So in etwa waren meine Gedanken vor knapp fünf Wochen. 2008 habe ich “Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede” das erste Mal gelesen. Auch, wenn mich damals mehr Murakami als Autor fasziniert hat, die vage Idee, irgendwann selbst mit dem Laufen zu beginnen war da. Manchmal muss so ein Entschluss offensichtlich lange reifen, und als nun 2020 die Welt auf eine ganz neue Art und Weise still stand, dachte ich: jetzt oder nie!  Murakami zum Zweiten – vom Laufen und Wiederlesen weiterlesen

Long Bright River – Liz Moore

Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, wachsen in schwierigen Familienverhältnissen auf. Als Kinder sind sie sich nah, doch als Jugendliche entwickeln sie sich in unterschiedliche Richtungen – Mickey wird Streifenpolizistin, Kacey rutscht immer weiter in die Drogenszene ab.

Die alleinerziehende Mickey nutzt ihren Job, um ein Auge auf die kleine Schwester haben zu können. Doch dann erschüttert eine Mordserie die Straßen Philadelphias… Dieser Roman ist ein echter Pageturner, spannend bis zum Schluss, eine raffiniert erzählte Familiengeschichte und nicht zuletzt das ausgezeichnete Portrait einer Stadt und ihrer Probleme.

Sheroes – Jagoda Marinic

Manchmal braucht es nur 125 Seiten um ein ganzes Feuerwerk an Fragen zu zünden! Jagoda Marinic möchte die Debatte nach #MeToo weiterführen und dafür Frauen und Männer gemeinsam an einen Tisch setzen. Nur, wenn alte Rollenbilder aufgebrochen werden, kann sich etwas Neues entwickeln, können Strukturen sichtbar und verändert werden. Neue Held*innen braucht das Land, fordert uns Marinic im Untertitel des Buches auf und spricht uns ALLE an. Es ist an uns, unser Denken zu verändern und uns auf diese Debatte einzulassen – gemeinsam! Sheroes – Jagoda Marinic weiterlesen

Die Ermordung des Commendatore I – Haruki Murakami

Wir alle kennen dieses Gefühl des Verlorenseins, welches Haruki Murakami in seinen Büchern oft beschreibt. Ich weiß, worauf ich mich bei ihm einlasse und doch kann er mich immer wieder aufs Neue überraschen.

“Ich griff nach dem Baumstamm und ließ mich mit der Strömung treiben. Um mich herum war es stockdunkel, und am Himmel waren weder Mond noch Sterne. Solange ich mich festhielt, würde ich nicht untergehen, aber ich hatte keine Ahnung, wo ich mich gerade befand und wohin die Reise ging.” (S. 67)

Der erste Teil des neuen Romans zeigt ganz klassische Züge der Kriminalliteratur und es gelingt Murakami, kontinuierlich Spannung aufzubauen, die dann am Schluss mit einem echten Cliffhanger endet. Im Roman selbst gibt es ein paar Kunstgriffe, die mich beim Lesen leicht irritierten, die ich aber im Nachhinein als solche erkannte, beziehungsweise für mich deuten konnte – und daraufhin einmal mehr wieder beeindruckt war. Auch gibt es eine Szene, bei der ich fast ahne, dass sie für Irritationen sorgen wird. Und doch – es gehört einfach zu Murakami, denn auch scheinbar unpassende Offenbarungen sind ein wiederkehrendes Motiv in seinem Schaffen. Diese beiden Anmerkungen sind allerdings schon “Kritik auf hohem Niveau” und sie fallen für mich insgesamt nicht allzuschwer ins Gewicht.

Die Frage was und wieviel braucht es für ein gutes Leben ist unterschwellig den ganzen Roman lang spürbar. Was ist genug? Auch die Zeit spielt eine große Rolle.

“Es musste eine angemessene Zeit vergehen – dann würde ich wissen, worauf es ankam. Darauf musste ich warten. Wie man geduldig darauf wartet, dass das Telefon klingelt. Ich musste auf die Zeit vertrauen, dran glauben, dass sie auf meiner Seite war.” (S. 254)

Unser Alltag ist meist nicht allzu mysteriös.

Umso bereitwilliger nehmen wir uns den Vorfällen in Haruki Murakamis Romanen an und öffnen uns für diese Geschichten. Schlagen die Seiten auf und lassen uns ganz darauf ein, wieder mit Murakami in einen gedanklichen Brunnen zu steigen. Während über uns unser Leben vielleicht noch Wellen schlägt, sinken wir auf den Grund wo es nur noch uns und das Buch gibt.

Und was ist das wieder für ein Buch! Alle Musikliebhaber werden auch diesen Roman wieder mit Genuß lesen, speziell, wenn sie Opern-Fans sind. Die meisten Markierungen sind in meinem Exemplar an den Stellen, bei denen es sich um das Malen und das Erschaffen von Kunst dreht. Hier setzt Murakami für mich wieder kleine, feine Widerhaken, die sich zart in mich bohren und mich nicht loslassen wollen.

Ein kleiner Nachsatz sei mir an dieser Stelle gestattet.

Denn eine Frage, die mir auch gestellt wurde lautet: Ist es wieder ein echter, ein typischer Murakami? Zuerst will ich nicken, denn vieles kennen wir bereits aus seinen vorherigen Romanen und diese Kontinuität macht ja auch den großen Reiz aus. Allerdings fragte ich mich nach kurzem Zögern, warum manche (Kritiker) gefühlt mit einer inneren Checkliste herumlaufen – kommen diese und jene Elemente vor, ist das auch wieder mit dabei? Was hat es für einen Sinn oder Gehalt, diese Punkte abzuarbeiten um das Buch zu bewerten, statt sich lesend das Buch zu erobern? Sich zu fragen, was das Buch mit einem macht, auf welche Reise man sich gemeinsam begeben hat?

Aus den Dingen heraus, die über Haruki Murakami und sein Schreiben bekannt sind, würde ich sagen, dass es ihn persönlich wahrscheinlich kalt lassen wird, ob er auf einer fiktiven Murakami-Skala die höchste Punktzahl erreicht.         Was er sich aber meiner Vermutung nach wünschen würde ist, dass wir Leserinnen und Leser uns ein aufs andere Mal wieder auf seine Bücher freuen. Und uns verlieben.

Durch Manhattan – Niklas Maak & Leanne Shapton

Sich eine Stadt zu erlaufen, das Konzept ist nicht neu. Und doch haben Niklas Maak und Leanne Shapton mit diesem Band und seinem spielerischen Element noch auf den letzten Metern des Jahres 2017 mein Herz erobert. Bereits auf dem Cover sehen wir ihren Weg und ihr Ziel auf der Insel eingezeichnet: Manhattan von der Südspitze bis zum oberen Ende auf einer Linie zu durchqueren. Ihre Ausrüstung sind ein Aquarellkasten, Papier und Stifte. Durch Manhattan – Niklas Maak & Leanne Shapton weiterlesen

Flugschnee – Birgit Müller-Wieland

Lucy. Lorenz. Helene. Vera. Arnold. Das sind die Stimmen, die in einem Zeitraum von rund 20 Jahren eine Familiengeschichte erzählen. Und auch der abwesende Simon, der Bruder von Lucy, erzählt durch sein Fehlen auf ganz eigene Art seinen Teil der Geschichte. Flugschnee, so heißt der Roman und auch das Cover passt zur Erzählweise des Buches. Viele einzelne Schneeflocken fliegen umher, Erinnerungsfetzen, Kindheitseindrücke, Erzähltes, Gehörtes, Gesagtes. Nach und nach bilden sich Muster in diesem wilden Erzählsturm, um dann doch gleich wieder im Weiss zu verschwinden. Aber je weiter man vordringt, desto klarer wird die Sicht und die Ahnung, dass all diese Schneeflocken zusammengesetzt ein Bild ergeben werden, die Geschichte einer Familie, die ein Geheimnis viel zu lange verbarg und nun droht, an ihm zu zerbrechen.

Kunstvoll erzählt, in einem ruhigen Stil, der mir sehr gut gefallen hat. Für mich zurecht auf der Longlist!

Briefe an junge Autoren – Colum McCann

Es gibt keine allgemeingültige Anleitung zum Schreiben und in seinen Schreibseminaren gibt der Autor zur Eröffnung stets zu bedenken, dass er sich außerstande fühlt, den Lernenden überhaupt etwas beibringen zu können. Und trotzdem setzt Colum McCann sich hin und verfasst einen Schreibratgeber. Warum?

Weil es gut tut, nicht alleine zu sein, mit seinen Sorgen. Weil es tröstlich sein kann, ja und auch inspirierend, sich beim Lesen als Teil eines großen Ganzen zu begreifen. Zu wissen, dass sich alles auch bei den “Großen” manchmal erst nach langen Durststrecken und vielfachem Scheitern entwickeln konnte. Briefe an junge Autoren – Colum McCann weiterlesen

Dass wir uns haben – Luise Maier

Manchmal lese ich ein Buch, das so schmerzhaft ist und soviel in mir anrührt, dass ich mich frage, wie ich dieses Buch empfehlen kann und soll. Und gleichzeitig ist mir bewusst, wie wichtig diese Bücher sind, die den Finger auf die Wunde legen. Die Schmerz sichtbar machen, unsichtbare Familiengefüge ans Licht bringen und die uns aufschrecken lassen. Dass wir uns haben – Luise Maier weiterlesen