„Die Luft verändert sich, wenn man über die Schwelle des Ortes tritt. Eine feine Säure liegt darin, etwas dicker ist sie, als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte. Niemandem hier fällt das mehr auf, und auch mir wird es nach ein paar Stunden wieder vorkommen wie die einzig mögliche Konsistenz, die Luft haben kann. Jede andere wäre eine fremde“. S.7
Mit diesen Sätze beginnt das Debüt von Deniz Ohde, die mit ihrem Roman „Streulicht“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht. Etwa in der Mitte des Buches reift in mir ein Plan. Der „Ort“ im Buch liegt nur etwa 30 Minuten von mir entfernt und ich beschließe, hinzufahren. So beeindruckt bin ich von der Atmosphäre, die Ohde in wenigen Seiten entstehen lässt.
Mit dem Buch in der Hand laufen meine Begleitung und ich durch den Ort und werden schnell fündig. Bilder entstehen, wir schauen uns um, erkunden die Umgebung. Fast habe ich manchmal das Gefühl, einiges wiederzuerkennen, obwohl ich noch nie dort war – so sehr hatten sich die Beschreibungen Ohdes bei mir festgesetzt.
Werksbrücke Industriepark Höchst
„Die Bewohner des Orts haben diese seltsame Brücke zum Wahrzeichen erklärt, sie verrichten ihre Sonntagsspaziergänge auf der unbefahrenen Seite und blicken dabei über das Geländer die zehn Meter hinunter ins braungrüne Wasser. Die Brücke bildet auch die Grenze zum Industriepark, hinter ihr beginnt sein Gebiet, abgesperrt durch Mauern und dreimal größer als der Ort selbst.“ S.13/ S.14
Deniz Ohde lässt ihre Erzählerin in vielen Rückblenden von der Erfahrung berichten, von Anfang an in eine bestimmte Schublade gesteckt zu werden. Als eine junge Frau gesehen zu werden, der aufgrund ihrer Herkunft und ihres Elternhauses (Vater deutscher Industriearbeiter, Mutter türkische Einwanderin) automatisch weniger zugetraut wird, egal, wie überangepasst sie sich selbst gibt. Der Ort scheint oft eine weitere Hauptfigur zu sein, sie ist mit ihm und ihrer Geschichte dort tief verbunden. Ihr Buch erzählt vom Erwachsenwerden, von Brüchen in der Bildungsbiographie und der unendlichen Anstrengung, sich wieder und wieder gegen Ungleichheiten, unsichtbare und sichtbare Grenzen wehren zu müssen.
Streulicht ist ein beeindruckendes Debüt
Mich hat dieses Buch sehr beeindruckt, es hat mich durchgerüttelt und mich oft aufgrund der Ungerechtigkeiten wütend werden lassen. Es hat geschafft, was ich mir von einem verdammt guten Buch erhoffe: mir einen weiteren Blickwinkel verschafft, mich nicht kalt gelassen und mich weit über das Lesen hinaus beschäftigt. Dass der Roman auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht, überrascht nicht, ist er doch eine ausgezeichnete Beobachtung unserer Gesellschaft. Ich drücke alle Daumen für einen Platz auf der Shortlist – Deniz Ohde und „Streulicht“ haben ihn mehr als verdient.
Dass ich diesen Roman als Buchpreisbloggerin für den Deutschen Buchpreises 2020 begleiten konnte, hat mich ganz besonders gefreut! Wenn ihr den „Streulicht“ ebenfalls gelesen habt, teilt gerne eure Eindrücke auf Instagram unter dem Hashtag #StreulichtLesen !
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