Bei manchen Lektüren merke ich schon nach wenigen Kapiteln, dass ich zum Lesen meinen pinken Marker brauche. Wenn ich das dringende Bedürfnis habe, ganze Absätze zu markieren, kleine Notizen an den Rand zu schreiben, dann macht ein Buch gerade viel mit mir.
Wenn ich mir meine Ausgabe von Ungezähmt ansehe, dann strotzt sie nur so vor Markierungen, einzelne Sätze, zukünftige Mantras, eigene Gedanken, Stellen, an denen ich Glennon Doyle auch mal kontra gebe (wäre ja auch langweilig, wenn nicht!) Mich hat das Buch intensiv beschäftigt – das sieht man ihm an.
Nicht nur ist die persönliche Geschichte und Entwicklung von Glennon Doyle spannend und bewegend. Anhand ihres Lebens und der Ereignisse darin verhandelt Doyle eine Vielzahl an Themen. Sie schreibt über Abhängigkeit, über Trauer und Verlust. Sie spricht über Feminismus und die gesellschaftlichen und patriarchalen Strukturen, die vor allem Frauen von frühester Kindheit an prägen. Wie problematisch viele dieser Sichtweisen und eingefahrenen Rollenbilder für unsere mentale und physische Gesundheit werden können. Sie spricht über die Herausforderungen und Schwierigkeiten von Elternsein und Mutterschaft die sich daraus ergeben und über ihr erschüttertes Verhältnis zum Glauben.
Bei vielen Themen unterstreiche ich furios besonders gelungene Gedankengänge und setze dicke Ausrufezeichen an den Rand.
Es ist eine in Buchform gegossene, laut hervorgestoßene Aufforderung, uns von Erwartungen, Vorgaben und äußeren Einflüssen zu befreien und für uns selbst einzustehen. Sie gibt ihren Leser*innen mit diesem Buch eine Schachtel Streichhölzer in die Hand und schubst uns mit Nachdruck in Richtung des aufgeschichteten Feuerholzes.
Ich bin mir sicher und habe auch einige Rezensionen in die Richtung gelesen, dass diese Art und Weise zu schreiben, nicht für jeden passt. Immer wieder fällt „zu amerikanisch“ – für mich war das vernachlässigbar, bzw. bin ich mit Büchern in diesem Ton auch großgeworden und fühle mich dort ganz gut abgeholt. Das Buch springt etwas zwischen den Themen hin und her, was aber im „big picture“ einfach passt – das hier ist sind Texte, die mit wütendem Tastenanschlag geschrieben wurden, die sich aus dem Leben ergeben haben – und das Leben ist nunmal nicht aufgeräumt und neat, im Gegenteil. Wenn ihr euch unsicher seid, am besten beim nächsten Buchladenbesuch reinlesen.
Glennon Doyle ist wohl bewusst, dass dieser Weg kein leichter ist, an einer Stelle schreibt sie „Es wird schwer werden, aber es ist endlich die richtige Art von schwer.“ (S. 143). Und immer wieder taucht der Satz auf „Wir können schwere Dinge tun.“
Liebe Glennon, das glaube ich auch. Danke, dass Du mit diesem Buch so vielen Menschen da draußen Kraft vermittelt hast, uns deine gesunde Wut hast sehen lassen und tief in dein Inneres.
Ja, wir können schwere Dinge tun.